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Wie viele Menschen sind eigentlich arm?

Im Alter von Armut betroffen zu sein, kann verschiedene individuelle und biografische, aber auch strukturelle und systembedingte Gründe haben.

Mit Blick auf die gestiegene Armut schreibt sich das Problem der Armut im Alter allerdings in den Lebensläufen der jüngeren Menschen von heute bereits fest, wenn keine Änderungen erfolgen. Diese Entwicklung war vorhersehbar: die Ausweitung des Niedriglohnsektors und der verschiedenen Formen atypischer Beschäftigung wie Befristung oder Leiharbeit, sowie gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Behinderung, die zu geringen Rentenanwartschaften führen.

Die Armutsgefährdungsquote der Menschen im Alter ab 65 Jahren ist in den vergangenen Jahren von 11,0 Prozent auf 15,7 Prozent im Jahr 2019 gestiegen (Tabelle 2).

Bei 18,3 Millionen Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren bedeutet das: Rund 2,9 Millionen ältere Menschen sind armutsgefährdet.  Bezieht man auch unter 65-Jährige mit Renten- oder Pensionsbezug ein, liegt die Armutsgefährdungsquote mit 17,1 Prozent höher.

Wenn Krisen wie die aktuellen hinzukommen – Inflation, steigende Energie- und Lebensmittelpreise – dann ist es für ältere Menschen  Familien und chronisch Kranke besonders schwierig. Hinzu kommt, das in allen Fällen auch relativ viel geheizt wird da sie eher für Kälte anfällig sind. Wenn sich im selben Maße die Preise erhöhten wie bisher, dann sind diese Gruppen die Hauptbetroffenen einer Armutsgefährdung.

Wie viele Deutsche sind eigentlich arm? Die Antwort ist nicht so einfach. (von Benjamin Fuchs)

Wenn du in meine Wohnung kommst, siehst du keine Armut«, sagt Anni. Die 40-Jährige weiß ihren Geldmangel zu verbergen – zumindest auf den ersten Blick: »Die Frage ist: Was siehst du, wenn du genauer hinschaust? Wenn ich die Husse vom Sofa nehme und man die ganzen Verfärbungen sieht, wenn ich die Deko von meiner Kommode runterstelle, die die ganzen geflickten Stellen und Lackschäden kaschiert. Wenn du auf den Boden guckst, siehst du, dass die Leisten und die Übergänge beim Laminat fehlen. Das Laminat ist kaputt, vorne am Balkon ist es aufgequollen. Da habe ich aber einen Läufer drüber liegen«, erzählt mir die Armutsbetroffene am Telefon. Da viele ein oft vorurteilsbehaftetes Bild von Armut haben, hat Anni diesen Sommer den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen auf Twitter gestartet. Dieser hat sich mithilfe der Stiftung EineSorgeWeniger inzwischen zu einer Bewegung entwickelt, die auch in Innenstädten in ganz Deutschland mit bunten Plakaten Präsenz zeigt, auf denen Tweets von armutsbetroffenen Menschen abgedruckt sind.

Eigentlich ist klar: Es gibt Armut in Deutschland und wer hinsehen möchte, entdeckt sie auch.

Deutlich wird es jedes Mal, wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen jährlichen Armutsbericht veröffentlicht. 2021 zählte der Verband 13,8 Millionen Menschen zu den Armutsbetroffenen, 16,6% der Bevölkerung.

Im Jahr 2019 lag er laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung bei 2,6% erheblicher materieller Entbehrung.  Das alles klingt sehr technisch, aber es ergibt einen Unterschied für die Dringlichkeit politischer Maßnahmen gegen Armut, wenn man wahlweise annimmt, dass entweder 2,6% oder 16,6% der Bevölkerung arm sind.

Wie kommt dieser große Unterschied zustande? 16,6%  Armut gegenüber nur 2,6% erheblicher materieller Entbehrung. Derart unterschiedliche Ergebnisse machen einen Dialog über Armut fast unmöglich.

Was stimmt denn jetzt?

„Anni“ ist alleinerziehende Mutter von 2 Kindern.  Anni hat zwar genug Geld, Lebensmittel zu kaufen, um satt zu werden. Aber gut ernähren kann sie sich nicht. »Ich verzichte, damit meine Kinder vernünftig essen können«, erzählt sie mir. Zurzeit muss sie bei der Tafel aussetzen, wo sie früher Gemüse und Obst bekommen hat. 2 Millionen Menschen nehmen die Hilfe der Tafeln in Anspruch. Wegen der großen Nachfrage gibt es bei vielen Tafeln ein Rotationssystem. Etwa 1/3 von ihnen mussten diesen Sommer sogar einen Aufnahmestopp verhängen.

Auch „Susanne Hansen“ ist alleinerziehende Mutter von 2 Kindern, seitdem die Beziehung zu ihrem Mann vor ein paar Jahren in die Brüche ging. Vorher sei das Geld schon knapp gewesen, aber durch die Trennung sei sie in die Armut gerutscht, sagt sie. Weil sie sich in Vollzeit um die Kinder kümmern muss, kann sie nur wenig nebenbei in ihrem Beruf als Texterin arbeiten.

„Petra Schmidt“ kann seit vielen Jahren aufgrund einer chronischen Erkrankung nicht mehr arbeiten. Alles begann, bevor sie ihr Studium beenden konnte. Sie ist deshalb seit vielen Jahren sogenannte Erwerbsminderungsrentnerin in Grundsicherung. Das heißt: Weil sie noch nicht genug Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen konnte, wird ihre Rente auf Hartz-IV-Niveau aufgestockt. Nicht alle Bekannten wissen von ihrer Armut. Auch in einigen Vereinen, worin sie sich engagiert, ist ihre Situation nicht bekannt. Deswegen möchte sie hier ein Pseudonym nutzen. Auch beim Heizen sei sie ohnehin sparsam. Sie heize immer nur den Raum, in dem sie sich gerade länger aufhalte.

Bei „Melanie“ ist nicht klar, ob sie überhaupt ausreichend heizen kann im Winter. Sie ist Mitte 30. Seitdem sie Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, bei dem sie fast starb, leidet sie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Panikattacken und Agoraphobie, weswegen sie ihr Haus nicht verlässt. »In meinem Haus gibt es keine getrennten Gaszähler, deswegen muss ich eine Pauschale zahlen. Ich wohne in einem Dachgeschoss, das nicht isoliert ist. 86 Euro zahle ich pro Monat«, sagt sie. Das Amt habe diesen Betrag von Januar bis Dezember 2022 ausnahmsweise übernommen, wolle danach aber nur noch etwas mehr als 40 Euro bezahlen. Dieser Betrag steht ihr nach Aussage des Amtes monatlich für die Quadratmeterzahl ihrer Wohnung zu. Wegen der steigenden Energiepreise müssen die 86 Euro Heizkostenabschlag noch nicht der Endpunkt sein.

Was Armut bedeutet

Bei allen interviewten Frauen, die sich selbst als armutsbetroffen wahrnehmen, hat sich die Situation in den vergangenen Jahren verschlechtert. Armut bedeutet für sie, immer über Geld nachdenken zu müssen, genau zu überlegen, wie viel sie heizen und essen und wann sie Kleidung ersetzen können. Alle berichten von unfreundlichen Briefen der Ämter und dass sie sich ständig mit Papierkram auseinandersetzen, Nachweise und Belege erbringen müssen und Angst haben, ob dieses oder jenes gekürzt wird – obwohl es ein Zuviel ohnehin nicht gibt.

Wie macht man Armut sichtbar? Die Armutsgefährdungsschwelle

Um eine grobe Idee zu haben, wie es um ein Land sozial bestellt ist, haben Forschende Methoden gesucht, Lebenssituationen wie die von Anni, Susanne, Petra und Melanie in Zahlen und Statistiken zu erfassen. Eine Methode ist die Bestimmung einer Armutsgefährdungsschwelle oder umgangssprachlicher: Armutsschwelle. Hierbei ist der Ausgangspunkt das mittlere Haushaltseinkommen eines Landes, das Medianeinkommen.

von Frauke Berger

Das ist kein Durchschnittswert, sondern eher ein Standort. Stell dir eine lange Reihe von Haushalten vor, nach Einkommen von niedrig bis hoch sortiert. Teilt man diese Reihe in 2 gleich große Gruppen, ist der Haushalt in der Mitte derjenige, der das Medianeinkommen hat. Es gibt also genauso viele Haushalte, die mehr Einkommen haben, wie solche, die weniger haben. Wer weniger als 60% des Medianeinkommens hat, gilt als arm.

Auch Armutsschwellen für unterschiedliche Haushaltsgrößen werden bestimmt. Als Beispiel gilt aktuell ein Single mit einem Einkommen von weniger als 1.148 Euro netto pro Monat als armutsgefährdet. Nach dieser Berechnungsmethode galten 2021 etwa 13,8 Millionen Menschen als armutsgefährdet, die Armutsquote lag bei 16,6%. In den vergangenen Jahren ist diese Quote angestiegen. 2009 lag sie noch bei 14,6%.

Der Kritikpunkt: Auch wenn diese Methode von der EU angewandt wird und einer der Indikatoren im offiziellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist, bleibt die Zahl von 60% des Medianeinkommens eine Art gut informierte Schätzung, also willkürlich.

Häufige Kritik ist, dass Rentner:innen beispielsweise Wohneigentum haben könnten, das sie nutzen. Sie müssen also keine Miete zahlen. So etwas mache das reine Einkommen zu einem schlechten Gradmesser für Armut. Das kann sein, muss aber nicht: Ein armutsbetroffener Rentner erzählte mir einmal von seiner Situation: Seine Rente sei klein und er besitze ein kleines, eigentlich baufälliges Haus. Er könne es aber nur abwohnen, Instandhaltung sei für ihn nicht zu leisten. Eine andere Kritik betrifft die Tatsache, dass die Methode des Medianeinkommens Armut immer im Vergleich zu anderen messe. Denn: Wenn alle plötzlich das Doppelte verdienen, bleiben trotzdem gleich viele Menschen arm.

Eine weitere Methode: die materielle Entbehrung

Gegner:innen der Armutsquote führen meist eine Methode an, die materiellen Mangel oder Entbehrung misst. Auch sie verwendet die Bundesregierung im Armuts- und Reichtumsbericht, als eine Art Ergänzung zur Armutsquote. Sie soll abschätzen, wie vielen Menschen das wirklich Allernötigste fehlt.

Das Entscheidende dabei: Der Wert sinkt seit 2013. Damals waren 5,4% der Menschen betroffen, in den letzten Daten von 2019 hat sich der Wert mehr als halbiert. 2,6% – wer nur diese Zahl sieht, kommt zu dem Schluss: Alles halb so wild – und es wird doch auch immer besser. Anscheinend funktioniert die Armutsbekämpfung doch gut. Aber wie kommt dieser Wert zustande?

Hier geht es um eine Selbstauskunft der Betroffenen. Folgende Informationen sollen sie geben:

Wer mindestens 4-mal mit »Ja« antwortet, zählt zu den 2,6% derjenigen, die erheblich materiell entbehren. Diese Fragen habe ich auch meinen 4 Interviewgästinnen gestellt. Bei allen zeigen sich Probleme bei der Beantwortung. Eigentlich können alle derzeit ihre Wohnung heizen; was diesen Winter passiert, wissen sie aber nicht. Sie können alle keine unerwarteten Ausgaben bestreiten, die bei etwas mehr als 1.050 Euro liegen. Sie konnten lange die beschriebenen Mahlzeiten essen, aber durch die Inflation wird es schwierig und sie müssen zugunsten der Kinder selbst verzichten. Und was bedeutet eigentlich Urlaub? Melanie sagt, sie könne wegen ihrer Krankheit nicht wegfahren. Angenommen, es würde ihr eines Tages wieder besser gehen, wäre es vielleicht finanziell möglich, zu Freund:innen fahren, aber eine Unterkunft zu bezahlen? Undenkbar.

Anni findet alle Fragen problematisch, vor allem die letzten 4: »Ob ich ein Auto habe oder nicht, hängt manchmal von Zufällen ab.« Sie hat eins überlassen bekommen, könnte sich aber kein neues kaufen. Außerdem: Würde nach einem Induktionskochfeld gefragt, dann hätte sie zwar eins. »Aber nur, weil meine Nachbarin es mir billig gebraucht verkauft hat und ich es in kleinen Raten bei ihr abzahlen konnte«, so Anni.

Ähnliches berichtet Susanne Hansen, die noch ein Auto aus besseren finanziellen Zeiten hat, es aber auch nicht ersetzen könnte, wenn es den Geist aufgäbe. Petra Schmidt gibt zu bedenken: »Manche bekommen von Verwandten alte Fernsehgeräte, heutzutage kann man sie mitunter auch auf dem Sperrmüll finden.« Kurzum, vor allem die letzten 4 Fragen sagen wenig über die wirkliche finanzielle Situation eines Menschen aus. »Ich finde es auch etwas zynisch, dass alles rein materielle Kriterien sind«, sagt Petra Schmidt.

Auch diese Methode ist willkürlich und die Fragen wirken wie aus einer alten Welt. Ein Haushalt ohne Telefon oder Farbfernseher? Ist es heute nicht eher ein Smartphone und ein Laptop? Kriterien verändern sich im Laufe der Zeit, weil sich Gesellschaften verändern. Die Methode der materiellen Entbehrung misst also konkrete, sehr grundlegende, aber am Ende freihändig festgelegte Bedürfnisse.

Fazit:

Die erste Methode nennt einen Geldbetrag, der monatlich nötig ist, um nicht bloß zu existieren, die andere grenzt den Bereich ein, der geringfügig mehr als physisches Überleben bedeutet.

Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung  wurde vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) das Risiko für Altersarmut ebenfalls untersucht, mit dem Fazit:     

„Das Risiko für Altersarmut, gemessen als Armutsquote und Grundsicherungsquote, steigt über die Zeit an. Auf Basis der Simulationen finden wir, dass die Armutsrisikoquote von etwa 16 % in den Jahren 2015–2020 auf etwa 20 % in der ersten Hälfte der 2030er Jahre steigt. Der relative Effekt bei der Grundsicherungsquote fällt ähnlich aus. Diese steigt im genannten Zeitraum von etwa 5,5 auf 7 %.“

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